Didaktische Rekonstruktion

Kurzdefinition:

Die didaktische Rekonstruktion ist ein iteratives fachdidaktisches Verfahren, um fachwissenschaftliche Vorstellungen und Methoden entsprechend den Lernbedingungen und -voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler in Unterrichtsinhalte zu transformieren. Damit können konkrete didaktische Schritte erarbeitet werden, die dann in einen Unterrichtsplan einfließen.

Beschreibung:

Das Modell der didaktischen Rekonstruktion wurde von einer Oldenburger (z.B. U. Kattmann, H. Gropengießer) und einer Kieler Arbeitsgruppe (z.B. R. Duit, M. Komorek) entwickelt. Es ist durch die Wechselwirkung didaktischer, fachlicher sowie individuumsbezogener Aspekte gekennzeichnet und geht von der Überlegung aus, dass die wissenschaftlichen Inhalte, die in der Regel sehr abstrakt und komplex sind, nicht einfach unverändert in den schulischen Fachunterricht übernommen werden können, sondern in interdisziplinäre und überfachliche Bezüge unter der Berücksichtigung umweltlicher, gesellschaftlicher und individueller Zusammenhänge eingebettet werden sollen. Dadurch werden diverse Bezüge zu Vorkenntnissen von Lernenden, ihren Interessen, Einstellungen usw. hergestellt und ihre anthropogenen und soziokulturellen Voraussetzungen berücksichtigt. Die Verdeutlichung und Offenlegung der fachlichen und fachübergreifenden Zusammenhänge trägt zum besseren Verständnis, zur Entwicklung angemessener fachlicher Vorstellungen sowie zum Motivationswachstum bei, weil die Schülerinnen und Schüler sich mit dem Lernstoff besser identifizieren können. Fachinhalte des Schulunterrichts sind somit nicht von der jeweiligen Fachwissenschaft vorgegeben, sie müssen vielmehr in pädagogischer Zielsetzung erst hergestellt, d. h. didaktisch rekonstruiert werden (vgl. Kattmann, Duit, Gropengießer & Komorek, 1997). Die Fachdidaktik wird dabei als Metawissenschaft verstanden, „als Teil und Gegenüber der jeweiligen Fachwissenschaften“ (Kattmann, 1994, S. 4).

Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion umfasst drei in Wechselwirkung stehende Komponenten, deren Berücksichtigung für die Unterrichtsplanung unabdingbar ist:

  1. Fachliche Klärung: Hierbei handelt es sich um „die kritische und methodisch kontrollierte systematische Untersuchung wissenschaftlicher Theorien, Methoden und Termini unter Vermittlungsabsicht…“ (Kattmann et al., 1997, S. 11). Ein Beispiel für eine typische obligatorische Frage der fachlichen Klärung wäre: „Welche fachwissenschaftlichen Aussagen liegen zu dem gegebenen Thema vor, und wo zeigen sich deren Grenzen?“ Dabei werden einschlägige Lehrbücher sowie bedeutsame historische wissenschaftliche Monographien als Quellen der fachlichen Klärung zusammengefasst, erläutert und strukturiert.
  2. Erfassen von Vorstellungen der Lernenden: Dabei verstehen Kattmann et al. (1997) unter „Vorstellungen“ „kognitive Konstrukte verschiedener Komplexitätsebenen, also Begriffe, Konzepte, Denkfiguren und Theorien“ (S. 11). Die in den Vorstellungen der Schüler*innen erkennbaren Konzepte über ein Thema bzw. einen Themenbereich sowie die der Wissenschaftler werden identifiziert und in Hinsicht auf ihre Struktur und Qualität analysiert und verallgemeinert, wobei sich Verallgemeinerung auf Kategorienbildung bezieht.
  3. Didaktische Strukturierung: Diese ergibt sich aus dem Vergleich und der Verknüpfung der Ergebnisse der fachlichen Klärung, mit denen der Erfassung von Perspektiven der Schülerinnen und Schüler. Bei dem wechselseitigen implizierten Vergleich von Fachinhalten und Schüler*innenvorstellungen werden diverse Aspekte deutlich, die sich für das Lernen hemmend bzw. fördernd erweisen können.

Ziel der Didaktischen Rekonstruktion ist demnach, die fachlichen Elemente in Beziehung zu der Perspektive von Schülerinnen und Schülern zu bringen, um Unterrichtsgegenstände den Schülerinnen und Schülern verständlich zu vermitteln.

Im Modell der Didaktischen Rekonstruktion von Kattmann et al. (1997) spielt die Elementarisierung eine große Rolle. Unter „Elementarisierung“ versteht Kircher (2000) das „Zerlegen von komplexen ‚Dingen‘ in elementare Sinneinheiten“ (S. 115). Durch die Didaktische Rekonstruktion erfolgt der Wiederaufbau von Sachstrukturen aus den Sinneinheiten.

Die Sachstruktur wird dabei in zwei Kontexte unterschieden:

  • die Sachstruktur der wissenschaftlichen Disziplin und
  • die Sachstruktur des Unterrichts.

Die Sachstruktur der wissenschaftlichen Disziplin umfasst die Inhalte, Begrifflichkeiten, Prinzipien und Prozesse (Arbeits- und Denkweisen) des Bereichs sowie grundsätzliche Vorstellungen über die naturwissenschaftliche Perspektive.

Die Überführung der Sachstruktur in die Sachinhalte des Unterrichts erfordert Zwischenschritte. In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass dabei die Sachinhalte für den Unterricht vereinfacht werden. Dieser Reduktion steht dabei die Expansion eines Inhalts durch die Bezugnahme auf Alltagserfahrungen und -anwendungen entgegen sowie die Herstellung eines Bezuges zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler (erlebte persönliche Relevanz der Unterrichtsinhalte).

Die Schritte der Überführung sind die Elementarisierung und Rekonstruktion der Sachstruktur für den Unterricht. Kernelemente der Elementarisierung sind die Vereinfachung von Inhalten, die Bestimmung und Zerlegung von komplexen Inhalten in Elemente, in Form von methodischen Elementen und/oder elementaren Sinneinheiten. Kernelement der Rekonstruktion der Sachstruktur für den Unterricht ist das Zusammenfügen dieser Inhalte aus den Sinneinheiten mit Blick auf den Unterricht. Didaktische Rekonstruktionen sollen nach Kircher (2000) folgende Kriterien erfüllen:

  • Fachgerecht: Die dargebotenen Inhalte bzw. „Erklärungsmuster“ (der synonyme Begriff von Kircher für „Didaktische Rekonstruktion“) sind fachlich korrekt und relevant. Dabei werden Modellvorstellungen und Analogien zugelassen, die „nur zum Teil mit einer physikalischen Theorie übereinstimmen oder diese illustrieren können“ (Kircher, 2000, S. 119). Wichtig ist außerdem zu überprüfen, ob das Gelernte fachlich erweiterbar ist. Das bedeutet, dass die Schüler*innen in der späteren Schulstufe nicht umlernen müssen, sondern sich ihr Wissensstand um neue Begriffe, Eigenschaften und Gesetze erweitert (vgl. Jung, 1973).
  • Schülergerecht: Bei einer schülergerechten Didaktischen Rekonstruktion sind entwicklungspsychologische, psychologische und soziologische Aspekte zu berücksichtigen, und zwar die kognitiven Strukturen der Lernenden, ihre Vorerfahrung und ihre Alltagvorstellung, die Fähigkeiten, altes und neu erworbenes Wissen zu verbinden und Wissen neu zu organisieren usw.
  • Zielgerecht: Bei der zielgerechten Didaktischen Rekonstruktion entscheiden die Ziele darüber, welche Inhalte im Unterricht intensiv bzw. nur oberflächlich behandelt werden und welche nicht. Das Kriterium „Didaktische Relevanz“ hilft damit Irrelevantes zu vermeiden.

Vorgehensweisen können z.B. sein: Vom Einfachen zum Komplexen, vom Allgemeinen zum Speziellen, vom Anschaulichen zum Abstrakten.

Mit Blick auf Vereinfachungen sind nach Kircher (2000) unterschiedliche Vorgehensweisen möglich. Vereinfachungen können folgendermaßen erfolgen:

  • Ausschöpfung der Darstellungsmöglichkeiten z.B. mittels Sachstrukturdiagrammen, Flussdiagrammen, Ganzes-Teil-Relationen, Blockdiagrammen
  • Übersichtstabellen, Mind-Maps, Begriffsnetzen
  • bildhafte Darstellung
  • Experimente
  • Analogien
  • gezieltes, bewusstes Vernachlässigen
  • vorläufigen Verzicht auf begriffliche Differenzierung
  • Reduktion auf die prinzipielle Funktion
  • überzeugende Musterbeispiele
  • Rückgriff auf historische Entwicklungsstufen usw.
Interne Verweise:
Didaktik

Didaktische Handlungsebenen

Didaktische Reduktion

Didaktisches Dreieck

Verwendete Quellen:
Jung, W. (1973). Fachliche Zulässigkeit aus didaktischer Sicht. Kiel: IPN Seminar II.

Kattmann, U. (1994). Wozu Biologiedidaktik? Möglichkeiten einer praktischen Wissenschaft. In U. Kattmann (Hrsg.) Biologiedidaktik in der Praxis. Köln: Aulis. S. 9-23.

Kattmann, U., Duit, R., Gropengießer, H. & Komorek, M. (1997). Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion – Ein Rahmen für naturwissenschaftsdidaktische Forschung und Entwicklung. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften. S. 3-18.

Kircher, E., Girwidz, R. & Häussler, P. (2000): Physikdidaktik. Braunschweig: Vieweg Verlag.

Weiterführende Literatur:
Praxis der Naturwissenschaften. Chemie in der Schule. Heft 8. Köln: Aulis-Verlag. 2005.

Mikelskis, H. (Hrsg.): Physik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor. 2006.

Weitzel, H.: Biologie verstehen: Vorstellungen zu Anpassung. Didaktisches Zentrum Carl von Ossietzky. Universität Oldenburg. 2006.

Internetverweise:

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Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Geographie. Didaktische Rekonstruktion geowissenschaftlicher Begriffe. 2008

Universität Oldenburg. Didaktische Reduktion. Biologie

Universität Oldenburg. Didaktische Zentrum

Materialien:

Verantwortlich: Claudia Gómez Tutor, Zentrum für Lehrerbildung, TU Kaiserslautern und Olga Zhuravleva

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