Von KiWiSS 26. November 2024
Erfahrungen und Gedanken zu Selbstlernzeiten – Nachlese zum KiWiSS Beitrag auf der TURN Conference 2024 in Berlin
Leon Richter und Johann-Nikolaus Seibert berichten im Folgenden über ihre Erfahrungen aus dem Vortrag „Kontinuität im Workload durch inhaltliche Strukturierung von Selbstlernzeiten (KiWiSS) - Bausteine zur Verbesserung der Studieneingangsphase in MINT-Lehramtsstudiengängen“ anlässlich der TURN Conference 2024 am 15. November 2024 in Berlin.
Dass ein Studium nicht nur aus dem Besuch von Lehrveranstaltungen besteht, sondern auch einer gewissen individuellen Eigenleistung in Form eines Selbststudiums bedarf, wird kaum in Zweifel gezogen. Bemerkenswert ist dabei jedoch 1) die Aufteilung der Studienzeiten in Präsenz- und Selbststudienzeit, wie sie verbindlich im Modulhandbuch festgelegt werden - mithin setzen sich Lehrveranstaltungen aus einem Drittel Präsenz- und zwei Drittel Selbstlernzeit zusammen und 2) die formale Gleichstellung der Präsenz- und Selbststudienzeit bei der Vergabe von Leistungspunkten. Der überwiegende Zeitanteil, für den ECTS Punkte erworben werden, liegt also in den Händen der Studierenden. In dieser Selbstlernzeit finden viele komplexe Prozesse statt, die selten vollständig von Dozierenden berücksichtigt werden. Dies bezieht sich z. B. auf die zur Verfügung stehende individuelle Lernzeit, individuelle motivationale Aspekte, verwendetes oder bereitgestelltes Selbstlernmaterial sowie die notwendigen zur Verfügung stehenden metakognitive (Lern-)Strategien.
Das individuelle Selbststudium ist also ein komplexes Gefüge, das im Studienprozess einerseits wenig Beachtung findet und andererseits auf Grund der meist unbekannten individuellen Komponenten als Blackbox gesehen wird. Im Rahmen des o. g. Konferenzbeitrags auf der TURN 2024 wurde diese Blackbox gemeinsam mit dem Auditorium diskutiert. Es wurde versucht die Blackbox einen Spalt weit zu öffnen und das Thema auch aus den verschiedenen Perspektiven der Zuhörerschaft zu beleuchten.
Im Folgenden werden ausgewählte Aspekte und Statements aus der Diskussion des Konferenzbeitrags herausgegriffen und kurz kommentiert.
Statement 1: „Selbstlernzeiten sind schwer zu erfassen.”
Selbstlernzeiten sind sehr individuell. Wie die Workloadforschung zeigt, variiert z. B. nicht nur der Umfang der Selbstlernzeiten zwischen den Studierenden, sondern auch beim Einzelnen. Wer für die eine Veranstaltung viel Zeit aufwendet muss das nicht auch für die andere tun. Das gesamte Studium wird von Selbstlernzeiten durchzogen, weshalb die punktuelle Erhebung solcher Zeiten nicht nur schwierig ist, sondern auch den Semesterverlauf vernachlässigt. Zudem ist bereits die Operationalisierung des Konstrukts „Selbstlernzeit“ herausfordernd, da ein Zeitinvestment zumeist mit einem gewissen Learning-Outcome oder einer bestimmten Qualität des Lernens in Verbindung gebracht wird.
Daher ist es sinnvoll Methoden zu wählen, die neben dem Umfang des Zeitaufwands auch die inhaltliche Komponente berücksichtigen (wie z. B. Lerntagebuch oder Workloadkurve), so dass bei einer Erhebung neben der individuellen Lernzeit auch Präferenzen gegenüber Lernmaterialien und präferierten Lernstrategien ableitbar sind.
Statement 2: „Studierende haben oft das Gefühl, dass das Selbststudium für sie keinen Mehrwert bringt. Einige Studierende lernen dabei nach dem Prinzip „Je mehr Zeit ich investiere, desto besser bin ich vorbereitet“. Dies führe dazu, dass Studierende stundenlang in der Bibliothek sitzen, Skripte oder Lehrbücher immer und immer wieder lesen, Lerninhalte wiederholen sowie ineffiziente Lernstrategien anwenden.“
Diese Erfahrung deckt sich mit der vieler Lehrender. Das Aufwenden von Zeiten für stupides Wiederholen vermittelt den Lernenden schon meist das Gefühl des Lernens. Was für das Auswendiglernen vielleicht noch gelten mag, scheitert spätestens beim Anspruch des Verstehens, da hier eine neue Qualität im Lernen erreicht werden muss. Zum effizienten Lernen gehört mehr als nur viel Zeit darin zu investieren. So können neben geeigneten Lernstrategien z. B. auch aktiv Pausenzeiten, Strategien zur Emotions- und Motivationskontrolle oder auch Zeitmanagement Techniken inkludiert werden. Meist geht es nicht darum, immer mehr Zeit für das Lernen aufzuwenden, sondern darum, in der verfügbaren Zeit effektiver zu lernen.
Die Illusion durch reines Zeitinvestment und die Steigerung dessen das Gefühl zu haben, besonders viel zu lernen, wenn wir eigentlich ineffiziente Lernstrategien anwenden, kann sich langfristig auch negativ auswirken, weil bestehende ineffektive Lernstrategien immer weiter verstärkt werden, ohne sich über deren Ineffizienz im Klaren zu sein. Diese Verhaltensweisen von Studierenden sind nachvollziehbar. Zu Studienbeginn sind nicht immer Lerntechniken, metareflexives Verhalten oder notwendiges Vorwissen zum Lernen in ausreichemden Maß vorhanden. Auch die Einstellung gegenüber sich selbst und dem Lernen kann den Studienerfolg beeinflussen. Hat z. B. ein Studierender oder eine Studierende ein „Growth Mindset“ (Persönliche Eigenschaften sind veränderbar durch verschiedene Faktoren), so sind Lernprozesse einfacher zu optimieren, als bei Studierenden mit einem „Fixed Mindset“ (Persönliche Eigenschaften sind vorherbestimmt und unveränderbar). Deswegen ist es elementar, auch in Bezug auf Chancengleichheit, dass im Studium den Studierenden das „Lernen lernen“, fachspezifisch und handlungsnah erläutert wird. Lehrende können hierbei unterstützen, zur Reflexion anregen und Selbstlernzeiten bereits in Präsenzveranstaltungen strukturieren.
Statement 3: „Kolleginnen und Kollegen der Mathematikdidaktik an der FU Berlin haben ein begleitendes Selbstlernheft zu einer Mathematikvorlesung erstellt, was die Vorlesung, Übung und das Selbstlernen verbindet. Das Heft wurde leider nur wenig genutzt. Sie haben am Ende des Semesters, in dem sie dieses Selbstlernheft eingesetzt haben, eine Abschlussbefragung durchgeführt, in der sie die Studierenden dazu befragt haben. Sie beschrieben, dass die Studierenden als Gründe für die Nichtnutzung angaben, dass sie wenig Zeit hätten, wegen der Arbeit oder ähnliches. Dabei stellte sich heraus, dass einige der Studierenden, die das Selbstlernheft nicht genutzt hatten, angaben, dass sie jetzt denken, dass es für sie sinnvoll gewesen wäre, wenn sie das Arbeitsbuch genutzt hätten, d. h. für das Lernen an sich und für die Prüfungsvorbereitung. Anschließend stellten Sie uns daher die Frage, wie die Attraktivität der Selbstlernmaterialien gesteigert werden könnte.“
Auch solche Erfahrungen sind es, die in Projekten gebraucht werden. Oft wird in wissenschaftlichen Beiträgen lediglich das „Erfolgreiche“ präsentiert, dabei wird das weniger erfolgreiche als aussichtreicher Verbesserungsanlass oft übersehen. Selbstlernmaterial muss für Studierende einen erkennbaren Nutzen bieten, der z. B. über die die Integration in den Fachkontext und die Anbindung an eine Veranstaltung erreicht werden kann. Oftmals konzentrieren sich die Studierenden auf das, was ihnen die Lehrenden zur Verfügung stellen wie z. B. Übungsblätter und Skripte. Entsprechend können auch Selbstlernmaterialien von den Lehrenden begeistert und authentisch beworben werden, indem ihnen ein höherer Stellenwert und v. a. ein direkter Bezug zu Themen innerhalb der Veranstaltung eingeräumt wird. Die Relevanz des Selbstlernmaterials muss für die Studierenden deutlich werden – und zwar für ihre aktuelle Situation. Ohne erkennbare Relevanz, werden Studierende diese Materialien wahrscheinlich nicht nutzen. Die Integration von Selbstlernmaterialien in die Präsenzlehre scheint damit ein elementarer Bestandteil für deren Nutzen und Erfolg zu sein. Selbstlernmaterialien sollten nicht nur als freiwilliges und nebensächliches Add-on angesehen werden, sondern als elementarer Teil des Studiums verstanden werden und einen ähnlichen Stellenwert wie z. B. eine Übung erhalten. Durch diese verschobene Schwerpunktsetzung würden Studierende eine höhere Eigenverantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen und könnten damit ein Mindset entwickeln, das sie selbst in den Mittelpunkt ihres Tuns stellt. Damit schließt sich aber auch die Frage an: Wie viele metakognitive Kompetenzen müssen Studierende haben, damit Sie mit einer solchen individuellen Eigenverantwortung zurechtzukommen? Und wie sollen diese im Rahmen bereits existierender und nahezu ausgeschöpfter Curricula entwickelt werden?
Statement 4: „Einige Studierende lernen so, dass sie „nur“ die Übungsaufgaben mehrmals wiederholt durchgehen. Dies führt dazu, dass die Studierenden den Ansatz hinter der Aufgabe und das Ziel der Aufgaben nicht verstehen. Übungen und Tutorien müssen daher so umgestaltet werden, dass der Schwerpunkt auf dem Verstehen und nicht nur auf dem stupiden Anwenden liegt.“
Der Übergang von reproduziertem Wissen über das Verstehen bis zum Analysieren und Bewerten von Sachverhalten ist seit langem Thema von Lernzieltaxonomien wie z. B. der von Bloom. Wenn das Studium neben Wissen auch die korrespondierende Persönlichkeit herausbilden soll, die Gelerntes sinn- und verantwortungsvoll einzusetzen vermag, bedarf es auch des Aufzeigens von Denkstrukturen und Argumentationslinien, die eingeübt werden müssen. Eine reine Reproduktion oder wiederkehrende Übung ein und derselben Aufgabe lässt wenig vom Sinn und Ziel der Aufgabe verstehen. Das Erkennen und die Reflexion von Strukturen ist wesentliches Ziel eines Studiums. Mit geeigneten Lernstrategien gelingt es Studierenden leichter hinter die Kulissen des (Fach-)Wissens zu schauen. Daher ist es notwendig, sich neben den fachlichen Inhalten auch mit nicht-fachlichen Aspekten des Studiums zu beschäftigen, die wesentlich zum Studienerfolg beitragen können. Besonders im Lehramt und mit Blick auf die spätere Berufstätigkeit in der Schule ist die Einsicht hinter die Kulissen zentral für didaktische Überlegungen. An dieser Stelle kann es nicht schaden, wenn die didaktischen Überlegungen der Hochschullehre mit den korrespondierenden Lernstrategien thematisiert werden.
Statement 5: „Die Heterogenität der Studierendenschaft führt zu drei Gruppen: a) Studierende, die das Arbeitspensum durch Methoden und Strategien gut bewältigen können. b) Studierende, die mit dem geforderten Arbeitspensum teilweise überfordert sind, da sie keine derartigen Methoden oder Strategien kennen. c) Studierende, die mit ihrem Studium unglücklich sind und sich weniger für das Studium eignen.“
Durch die Bildungsexpansion und die Einführung der berufsqualifizierenden Bachelorstudiengänge wird die Heterogenität von Studierenden sicherlich nicht geringer. Während eine Gruppe das Studium eher problemlos bewältigt, braucht eine andere Gruppe mehr oder weniger Unterstützung. Das Erkennen und Aufarbeiten von (fachlichen) Defiziten ist sehr individuell, die Vorerfahrung und Einstellung der Studierenden ist den Lehrenden meist unbekannt und eine individuelle, thematisch-fachliche Lernberatung im Hochschulkontext kaum leistbar. Ein Ansatz hierzu kann es sein, Selbstlernmaterialien zu erstellen, die differenziert auf individuelle Fähigkeiten oder Defizite eingehen und damit die Heterogenität moderieren können. Wer selbst Materialen auswählen kann, die zum Fähigkeitsniveau passen, ist weniger überfordert und kann auf diese Weise den Lernprozess wie er in Präsenzveranstaltungen angestoßen wurde, individuell festigen und vertiefen und der leitenden Struktur des Selbstlernmaterials folgen. Doch mit allen Lernmaterialien hinsichtlich des Selbststudiums können Studierenden lediglich Angebote gemacht werden. Schlussendlich sind es die Studierenden, die auswählen, welche individuellen Lernangebote sie annehmen und was zu ihren individuellen Präferenzen passt. Als Herausforderung bleibt es, Angebote zu entwickeln, welche Studierende dazu führen ihre eigenen Lernprozesse besser zu reflektieren und sich am Ende ihres Studiums in die Lage versetzt zu sehen, ihr Lernen selbstorganisiert in die Hand zu nehmen.