Bildungsgangdidaktik

Inhaltsverzeichnis:
Kurzdefinition:

Die Bildungsgangdidaktik ist schulisches Unterrichtskonzept, bei welchem die Heranwachsenden durch die Bearbeitung von individuellen Entwicklungsaufgaben ihre eigene Erziehung und Bildung selbst vorantreiben und von den Lehrenden bei ihren Bemühungen unterstützt und begleitet werden.

Beschreibung:

Die Bildungsgangdidaktik beruht auf der Bildungsgangtheorie, einem Konzept, welches im Zuge des nordrhein-westfälischen Kollegschulversuchs entwickelt wurde (vgl. Trautmann 2004). Das zentrale Konstrukt der Bildungsgangdidaktik sind die „Entwicklungsaufgaben“ (Development tasks) oder auch „Bewältigungsaufgaben“ der einzelnen Schülerinnen und Schüler in Anlehnung an Robert J. Havighurst (vgl. Meyer 2004). In einem entsprechenden Unterricht wird den Lernenden eine didaktische und methodische (Selbst-)Verantwortung zugesprochen, sind sie doch in hohem Maße für die Unterrichtsgestaltung selbst zuständig (vgl. Helsper 2001). Die Bildungsgangdidaktik beschäftigt sich entsprechend damit, wie sich eine hohe Schüler*innenpartizipation im Unterricht erreichen lässt und welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit eine gelingende Bearbeitung der Entwicklungsaufgaben durch die Lernenden erfolgen kann. Die jeweilige Entwicklung der Heranwachsenden basiert auf der Bearbeitung und Lösung der verschiedenen, jeweils individuellen Entwicklungsaufgaben. Dieser subjektive Aneignungsprozess ist dabei auf den Lebenslauf der Heranwachsenden ausgerichtet und eng mit einer Biographieforschung verbunden (vgl. Trautmann 2004). Bei der Formulierung von Entwicklungsaufgaben sollten dabei auch zukünftige Aufgaben und Ereignisse berücksichtigt werden (vgl. Lechte/ Trautmann 2004). Beispiele dafür sind:

Beziehung:

engere Beziehung zu einem Freund bzw. zu einer Freundin aufnehmen […]

Beruf:

sich über Ausbildung und Beruf Gedanken machen, überlegen, was man werden will und was man dafür können bzw. lernen muss […]

Werte:

eine eigene Weltanschauung entwickeln, sich darüber klar werden, welche Werte man vertritt und an welchen Prinzipien man das eigene Handeln ausrichten will

Rolle:

sich Verhaltensweisen aneignen, die in unserer Gesellschaft zur Rolle eines Mannes bzw. zur Rolle einer Frau gehören […]

(Entwicklungsaufgaben in der Reihenfolge der Bedeutsamkeitseinschätzungen weiblicher (15-18-jähriger) Jugendlicher 1997, Oerter/ Dreher 2002, S. 272, zit. nach Lechte/ Trautmann 2004, S. 77)

Jank & Meyer (2005) ordnen die Bildungsgangdidaktik den bildungstheoretischen Unterrichtskonzepten zu, zu denen beispielsweise auch das Genetische Lehren und Lernen, die Lehrkunstdidaktik oder der Problemunterricht nach Wolfgang Klafki zählen (vgl. Jank & Meyer 2005). Diese Einordnung greift allerdings zu kurz. Die Bildungsgangdidaktik beinhaltet insbesondere einen Perspektivenwechsel beim schulischen Unterricht, der sich auch in konstruktivistischen bzw. ermöglichungsdidaktischen Ansätzen wiederfindet und das Subjekt in den Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen rückt und die „Allgemeine Didaktik radikal aus der Perspektive der Lernenden zu reformulieren“ (Helsper 2001, S. 83). In diesem Sinne fordern Meyer & Reinartz(1998, S. 10), dass das „Zentrum didaktischer Bemühungen […] nicht der Erfolg im Unterricht [sein sollte], sondern die Ermöglichung von Bildungsprozessen Heranwachsender.“ Den Lehrenden kommt dabei die Aufgabe zu, die Heranwachsenden bei der Formulierung und Lösung ihrer individuellen Entwicklungsaufgaben zu begleiten und zu unterstützen.

Im Begriff der „Bildungsgangdidaktik“ ist dieses Verständnis impliziert:

„Uns interessieren deshalb primär die Lerner als Subjekte, als Gestalter ihrer eigenen Lern- und Lebensgeschichte; uns interessiert, wie Lerner ihre Lebens- und Lerngeschichte so übernehmen und gestalten können, daß sie die werden, die sie sein wollen. Wir fragen nach Lernen, Erziehung und Bildung, insofern die Heranwachsenden dieses Lernen, diese Erziehung und diese Bildung selbst in Gang bringen“ (Meyer & Reinartz 1998, S. 10).

Somit steht der „bildende Gang der Heranwachsenden“ (Meyer & Reinartz 1998, S. 9) und nicht die inhaltliche Ausgestaltung von Lehr-Lern-Situationen im Vordergrund, womit gleichzeitig eine Kritik der bildungstheoretischen Ansätze impliziert wird. Dabei ist immer auch die Auseinandersetzung mit den eigenen biographischen Vorerfahrungen und die Veränderung der eigenen Deutungsmuster mit einbezogen (vgl. Kordes 1998). Unterschieden werden muss dabei zwischen dem objektiven und subjektiven Bildungsgang. Während der objektive Bildungsgang im Wesentlichen durch den Unterricht bestimmt wird, beinhaltet der subjektive Bildungsgang diejenigen Aspekte, welche sich die Schüler*innen aus dem jeweiligen schulischen und auch außerschulischen Angebot selbst heraussuchen und auch wirklich nutzen (vgl. Meyer 2004).

Die theoretische und empirische Grundlage der Bildungsgangdidaktik liegt in einer historischen und biografischen Betrachtung gelungener Lehr-Lern-Prozesse bei verschiedenen Persönlichkeiten (vgl. Jank & Meyer 2005). Vorläufer dieses Konzepts lassen sich bereits in der Antike oder auch bei Wilhelm von Humboldt oder der Hermeneutik Wilhelm Diltheys finden. In der Bildungsgangstheorie werden u.a. entsprechend historische Bildungsgänge erforscht (vgl. Meyer & Reinartz 1998).

Das Konzept der Bildungsgangdidaktik lässt sich auf die Lehrer*innenbildung übertragen. Auch hier lassen sich konkrete Entwicklungsaufgaben benennen, welchen sich zukünftige Lehrende im Hinblick auf ihre Professionalisierung stellen werden. Verschiedene Ausprägungen zu diesem Aspekt haben bspw. Hericks et al. (2001) zusammengetragen.

Interne Verweise:
Bildung

Ermöglichungsdidaktik

Unterrichtskonzepte

Verwendete Quellen:
Helsper, W.: Antinomien des Lehrerhandelns – Anfragen an die Bildungsgangdidaktik. In: Uwe Hericks et al. (Hrsg.), Bildungsgangdidaktik: Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Opladen: Leske + Budrich, 2001, S. 83-103.

Hericks, U. & Keuffer, J. & Kräft, H.C.; Kunze, I. (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik: Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Opladen: Leske + Budrich, 2001.

Kordes, H.: Fallanalyse und Bildungsgang – Plädoyer für eine auf den Bildungsgang bezogene professionelle pädagogische Arbeit. In: Meyer, M.A: & Reinartz, A. (Hrsg.), Bildungsgangdidaktik. Denkanstöße für pädagogische Forschung und schulische Praxis. Opladen, Leske + Budrich, 1998, S. 189-206.

Lechte, M.-A. & Trautmann, M.: Entwicklungsaufgaben in der Bildungsgangtheorie. In: Trautmann, M. (Hrsg.), Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss., 2004, S. 64-88.

Meyer, M. A.: Was ist Bildungsgangdidaktik. In: Trautmann, M. (Hrsg.), Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss., 2004, S. 89-113.

Meyer, M. A.; Reinartz, A.: Einleitung. In: dies. (Hrsg.), Bildungsgangdidaktik. Denkanstöße für pädagogische Forschung und schulische Praxis. Opladen: Leske + Budrich, 1998, S. 9-13.

Trautmann, M.: Die Entstehung und Entwicklung der Bildungsgangtheorie. In: Trautmann, M. (Hrsg.), Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss., 2004, S. 7-15.

Weiterführende Literatur:
Meyer, M.A.: Bildungsgangdidaktik. Auf der Suche nach dem Kern der Allgemeinen Didaktik. In: Die Deutsche Schule. 5. Beiheft 1999, Neue Wege in der Didaktik? Analysen und Konzepte zur Entwicklung des Lehrens und Lernens, S. 141–168.

Trautmann, M. (Hrsg.): Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss., 2004.

Koller, H.C. (Hrsg.): Sinnkonstruktion und Bildungsgang (Studien zur Bildungsgangforschung; Bd. 24). Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2008.

Hericks, U. (Hrsg.). 2001. Bildungsgangdidaktik. Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Opladen: Leske + Budrich

Keiser, G.: Das Bildungsgangkonzept in der Berufsschule im Rahmen von Schulentwicklung. Theoretische Grundlagen, empirische Befunde und didaktische Weiterentwicklung. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2004.

Schenk, Barbara. 2001. Perspektiven für Bildungsgangdidaktik und Bildungsgangforschung. In: Hericks, Uwe u.a. (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik. Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Opladen: Leske + Budrich. S. 263-268

Spörlein, E.: „Das mit dem Chemischen finde ich nicht so wichtig …“. Chemielernen in der Sekundarstufe I aus der Perspektive der Bildungsgangdidaktik. (Reihe: Studien zur Bildungsgangforschung Band 3). Opladen: Leske + Budrich, 2003.

Internetverweise:

Wir weisen darauf hin, dass die aufgelisteten Seiten nicht Teil des Didagma-Projektes sind. Daher übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte und die Richtigkeit dieser Seiten. Falls der Link defekt, oder der Seiteninhalt unpassend sein sollte würden wir uns freuen darüber informiert zu werden.

Kunze et al.: Zum Stand der Bildungsgangforschung und Bildungsgangdidaktik

Was ist eigentlich Bildungsgangdidaktik?

Materialien:

Verantwortlich: Rolf Arnold, FB Pädagogik, TU Kaiserslautern und Markus Lermen;